Eine Familien- und Stadtgeschichte in Wort und Bild

Notizen, Rezepte und ein paar alte Fotos sind alles, was Alisa von ihrer Oma Luna nach deren Tod geblieben sind, neben vielen offenen Fragen. Ihre Mutter will ihr nicht helfen. Aber vielleicht kann sie es auch nicht. Zu tief sitzt der Groll, den sie ihrer Mutter gegenüber hegt. In Elena Chouzouris Roman Onkel Avraam bleibt für immer hier, erschienen 2023 im Verlag der Griechenland Zeitung beschließt Alisa daraufhin von Tel Aviv nach Thessaloniki zu reisen, um auf diese Weise Licht in das verborgene Leben ihrer Oma Luna zu bringen und entdeckt dabei auch, wie eng die Geschichte ihrer Familie mit dem griechischen Widerstandskampf verwoben ist.
von Verena Sch
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Zurück in Alisas Familiengeschichte

Mit den drei Bildern im Gepäck, vorgeblich, um ihre Doktorarbeit über das Leben Avraam Benaroyas zu schreiben, reist Alisa nach „Saloniki“. Insgeheim hofft sie aber auf dieser Reise mehr über das Leben ihrer Oma Luna herauszufinden. Diese schien nämlich gut mit Benaroya bekannt gewesen zu sein, nannte sie ihn doch immer „Onkel Avraam“. Die Reise nach Griechenland ist also eher eine Reise in Alisas Familiengeschichte. Ihre Familie, sephardische Juden, wurden erst in den Konflikt mit den türkischen Einwanderern verwickelt, der in einem brennenden Viertel seinen traurigen Höhepunkt fand, dann von den Deutschen in ein Ghetto umgesiedelt und schließlich nach Auschwitz deportiert. Alle, bis auf eben ihre Oma Luna, „Luna mit dem Flammenhaar“, wie sie als Kind immer genannt worden war. Die Fotos dienen ihr als kleine Ankerplätze in die Saloniker Geschichte. In Chouzouris Roman sind es eben diese drei schwarz-weiß Bilder, die das jüdische Leben im Thessaloniki der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den buntesten, schillerndsten Farben wieder aufleben lassen. Der Leser taucht ein in das geschäftige Treiben auf den Saloniker Straßen, lernt einzelne Personen der 50.000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde der Stadt kennen und erfährt so zusammen mit Alisa, langsam aber stetig, von Luna und ihrer großen Liebe Pavlos, ihrer Flucht in die Berge, ihr Leben im Widerstand und was nach Pavlos Tod geschah.

Zurück in Salonikis Stadtgeschichte

Der Leser erfährt in Chouzouris Roman aber nicht nur einiges über Alisas Familiengeschichte, sondern bekommt auch einen detaillierten Einblick in die Thessalonicher Stadtgeschichte. Immer wieder wird auf den verheerenden Brand der Stadt von 1917 hingewiesen, dem mehrere Viertel zum Opfer fielen und der sich im Zuge dessen auch in das kollektive Gedächtnis der Einwohner eingebrannt hat. In den folgenden Jahren haben die Einwohner mit dem immer grösser werdenden Strom an Einwanderern aus der Türkei zu kämpfen, der in einem weiteren Brand gipfelt, als die Neuankömmlinge zusammen mit griechischen Faschisten schließlich ein Viertel niederbrennen, das hauptsächlich von armen Juden bewohnt worden war. Zusammen mit Alisa erfährt der Leser darüber hinaus mehr über Avraam Benaroya, der erst den griechisch jüdischen Arbeiterbund ins Leben rief und später die erste griechische Kommunistische Partei gründete. Interessant ist, das Alisa zwar ihre Doktorarbeit über Benaroya schreiben möchte, aber am Ende ihres Thessalonikiaufenthaltes relativ wenig über sein Leben und dafür mehr über das Leben Ihrer Oma Luna erfahren hat, was dazu führt, dass Alisa erkennt, das „Onkel Avraam für immer in Thessaloniki bleiben wird“, zurück nach Tel Aviv mitnehmen wird sie nämlich etwas anderes.

Ein Roman entsteigt den Fotos

Nicht nur Alisa hat wenige Informationen über das Leben ihrer Oma zu Beginn ihrer Reise in die Vergangenheit. Auch der Leser hat, wenn überhaupt, wenig bis gar keine Kenntnisse über das Schicksal der sephardischen Juden zur Zeit des Holocaust. Alisa hat die Fotos ihrer Oma zur Hand anhand derer sie sich auf die Reise in die Vergangenheit macht. Leider hat der Leser keine Fotos oder ähnliche Hilfsmittel, und so kommt ihm Elena Chouzouri zur Hilfe. Sie gibt dem Leser einen ganz speziellen Erzähler an die Hand, der nicht nur allwissend ist, sondern auch in der Lage ist, den Leser mit einzubinden. Immer wieder kommt es im Verlauf des Romans dazu, dass der Erzähler den Leser explizit mit in die Szenerie und somit in die Vergangenheit hineinholt : „Sagen wir, es ist Mittwochnachmittag.“ So wie Alisa sich ihre Fotos anschaut und versucht sich einen Reim darauf zu machen :

Trauung [Marriage]. 22. Juni 1944 [5504]. In den Bergen [À la Montagne]. Alisa ist schockiert, was ist hier los ? Wer ist der ihr unbekannte Mann, von welchen Bergen ist die Rede und vor allem, warum tragen alle Militärkleidung ? Und was heißt hier „in den Bergen“ ? Welche Berge sind gemeint, und wo liegen sie ?

so beschreibt der Erzähler dem Leser das Geschehen und bietet ihm hin und wieder auch verschiedenen Intepretationsmöglichkeiten an, wie er es deuten kann/soll/muss :

Genau an der Ecke, wo Egnatias-Straße und Elenis-Svoronou-Straße aufeinandertreffen, bog die Spitze des Zuges ab, während links und rechts graugrün uniformierte Wachen mit Waffen im Anschlag marschierten, aber auch einheimische Gendarmen, die nachfolgten/beobachteten/kontrollierten, und als auch sie abbogen, hat sie womöglich für ein paar wenige Sekunden eine unbewachte/unauffällige Lücke aufgetan. Wie und wann und woher die Männer dann auftauchten, wie und wann sie die Frau abdrängten/packten/mitnahmen, wie und wann und wohin sie rannten/abbogen/verschwanden, bleibt rätselhaft …

Langsam aber stetig entsteigt der Roman somit aus den Fotos, die Alisa zur Hand hat und der Erzähler beginnt dem Leser, das ‚Drumherum‘ näher zu bringen.

Mit Onkel Avraam bleibt für immer hier hat Elena Chouzouri ein eindrucksvolles Werk geschaffen, dass den Leser beinahe physisch in das Roman Geschehen hineinzieht. Zwar ist der Schreibstil zu Beginn mit seinen verschachtelten Sätzen etwas überwältigend, aber nach einigen Seiten und auch mit der Unterstützung des Erzählers kommt der Leser problemlos mit und er erhält einen schillernden, lebendigen und sehr informativen Einblick in einen Teil der griechisch jüdischen Geschichte, die er so nicht kannte und der ihn tief bewegen wird. Zumindest hat er mich es. Chouzouris Schreibstil ist auf einem literarisch sehr hohen Niveau und ich war nach der ersten Lektüre des Romans so beeindruckt, dass die ersten Versuche meiner Rezension meiner Meinung nach dem Roman nicht die Ehre erwiesen, die ihm zustand, und ich mich beschloss mit einer anderen Rezension fortzufahren, um mich danach diesem Roman wieder zuzuwenden. Das ist hiermit getan. Ganz zufrieden bin ich aber immer noch nicht.

Herausgeber ‏ : ‎ Verlag der Griechenland Zeitung – Hellasproducts GmbH; 1. Edition (31. Mai 2023)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Broschiert ‏ : ‎ 214 Seiten
ISBN-10 ‏ : ‎ 3990210475
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3990210475
Preis : 19,80 €

+++ Ich bedanke mich bei dem Griechenland Verlag für das Rezensionsexemplar +++

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